Oceansize - Effloresce New Artrock, Postrock

1. I Am The Morning 2. Catalyst 3. One Day All This Could Be Yours 4. Massive Bereavement 5. Rinsed 6. You Wish 7. Remember Where You Are 8. Amputee 9. Unravel 10. Women Who Love Men Who Love Drugs 11. Saturday Morning Breakfast Show 12. Long Forgotten
Am Anfang
Am Beginn darf ich mich erstmal kurz vorstellen, da diese Rezension gleichzeitig ja auch mein erster Post hier ist und ihr meinen Geschmack besser einschätzen könnt. Ich bin ein 18-jähriger Schüler aus dem Waldviertel/NÖ, mehr oder weniger durch Zufall mit ca. 15 Jahren zum Prog gekommen, mein Sprungbrett waren damals Tool. Seitdem hat sich mein Geschmack stetig verändert und erweitert und ich höre eigentlich alles quer durch den Prog-Gemüsegarten. Einzig und allein allzu schleimigem Neoprog und Retroprog kann ich weniger abgewinnen.
Aber zur Rezension. Bei Effloresce handelt es sich wohl um mein absolutes Lieblingsalbum, noch vor beispielsweise King Crimson's Red. Deswegen vielleicht die eigene Wertung etwas niedriger ansiedeln (Fanboy-Gefahr!). Ich allerdings bin der Meinung, dass Oceansize mit ihrem Debut ihr bestes und stimmigstes Album abgeliefert haben und hier teilweise in einem Song mehr rüberbringen als Genre-Kollegen in einem ganzen Album.
Die Band unterscheidet sich in so vielen Dingen positiv von ihren Genre-Kollegen (New Artrock/New Prog, wie auch immer, ist ja alles sehr schwammig), dass es mir schwer fällt, das alles in einem Guss zu besprechen. Deswegen werde ich versuchen, das ganze etwas zu gliedern. Natürlich überschneidet sich manches oder greift ineinander über.
Die Band
Mike Vennart: Gesang, Gitarre Gambler: Gitarre Steve Durose: Gitarre Jon Ellis: Bass Mark Heron: Drums
Allesamt studierte Musiker und Profis auf ihren jeweiligen Instrumenten. Die Gitarrenarbeit ist sehr variabel, es gibt hardrockige Riffs, es gibt meterhohe Soundwälle, es gibt verträumte Arpeggios und Klangtupfer, elektronische Spielereien und vor allem gibt es das mehr oder weniger zur Band-Signature gewordene verzerrte, hohe Tremolo. Dabei bleibt immer alles melodiös und harmonisch, ohne allerdings jemals banal oder kitschig zu wirken. Der Bass ist warm und nimmt in vielen Stücken eine vorherrschende Rolle ein, übernimmt gerne auch einmal die Melodieführung. Essentiell für den Klang der Band ist auch Drummer Mark Heron, ein wahrer Meister seines Fachs. Gefühlvoll führt er die Band auf Toms und Becken durch das Album, dass es eine wahre Freude ist. Es gibt auch immer wieder elektronische Spielereien und hier und da etwas Klavier, die Gambler zuzuschreiben sind, der auch live öfter mal am Keyboard sitzt. Mike Vennart ist ein guter und variabler Sänger. Er trällert, haucht, schreit sich die Seele aus dem Leib. Um seine Stimme zu erhalten, ist er mittlerweile gezwungen, live mehr oder weniger große Mengen Rotwein zu sich zu nehmen und diverse Mundsprays zu benutzen, allerdings nicht, ohne sich dabei über sich selbst lustig zu machen. Überhaupt sind Oceansize eine Band mit viel Humor, die sich selbst nicht ständig so ernst nehmen wie viele Progmusiker das gerne tun. Man hat Spaß an der Sache und hält engen Kontakt zu den Fans über Fanforen, Twitter und co., wo man z.B. erfährt, welche Filme Mr. Vennart zum Kotzen findet (falls es einen interessiert). Man ist sich auch nicht zu schade, das Merchandise selbst zu verkaufen oder sich nach dem Konzert unter die Fans zu mischen, und das, obwohl die Band doch nicht mehr ganz so klein ist.
Die Musik selbst
Eine Melange aus New Artrock, Postrock, Hardrock, Electronica, Metal (auf diesem Album noch eher weinger), Klassik (in den Klavierpassagen) und hin und wieder gar Jazz bzw. Funk. Die langen Songs sind eher dem Postrock zuzuschreiben (Women Who Love Men Who Love Drugs z.B.), während die kürzeren oft eher in die hardrockigere Richtung gehen (You Wish, Remember Where You Are, Amputee).
Emotionen
Was Oceansize meiner Meinung nach stark von anderen Bands des "neuen Prog" unterscheidet, ist die Herangehensweise an die Musik. Anders als viele professionelle Musiker ist die Musik zwar durchdacht, aber nicht verkopft, der Schwerpunkt liegt immer auf dem Gefühl. Hier wirkt nichts zurechtgezimmert oder aufgesetzt, hier fließt alles natürlich ineinander über, und das, obwohl die Songs eine Komplexität aufweisen, die man ihnen aufs erste Hören gar nicht ansieht. So gibt es im 6-Minüter "You Wish" beispielsweise 16 Taktwechsel bei 12 verschiedenen Taktarten. Klingt unzumutbar? Der Song ist total eingängig und rockt stellenweise ziemlich. Anders als Kollegen, die versuchen, so viele Taktwechsel wie möglich in einen Song zu packen, um proggy zu sein, geschieht das hier ganz automatisch. Hier hört man zu jeder Sekunde das Herzblut, das die Band in ihre Musik gesteckt hat. Anders als bei vielen Progbands, die da für mich künstlich wirkende Emotionen produzieren (Extrembeispiel: Dream Theater, aber ich finde das auch z.B. bei Porcupine Tree so, siehe Fear of a Blank Planet. Ich frage mich, warum Herrn Wilson das Thema "sullen & bored teenagers" so tangiert. Wenn es das tun sollte, dann kann er sich wohl schlecht hineinversetzen, denn ich, der ich doch die Hauptzielgruppe für ein derartiges Album darstellen sollte, kann mit dem von ihm zelebrierten, immer gleichen Stimmungen anfangen, die Texte und die Musik wirken "künstlich", "aufgesetzt". Aber das ist ein anderes Thema). Und genau dieses Gefühl habe ich bei Oceansize eben nicht. Hier wird mit dem Herz Musik gemacht, und nicht mit dem Kopf, allerdings ohne sich in Plattitüden zu verlieren.
Lyrics
Mir persönlich sind die Lyrics bei dem, was ich höre, sehr wichtig. Ich weiß, dass es vielen anders geht und völlig egal ist. Für mich sollten die Texte wenigstens nicht nerven, damit ich das Album richtig genießen kann. (Ein Album, das ich musikalisch genial finde, bei dem mich die Texte allerdings massiv stören, ist z.B. Galahads "Empires Never Last") Damit es aber richtig einschlägt, muss ich mich mit den Texten identifizieren können und es muss eine gewisse Qualität gegeben sein. Und die Texte von Mike Vennart erfüllen diesen Zweck voll und ganz. Wie die Musik sind sie voller Emotionen, oft rauh, oft poetisch, mal kryptisch, mal direkter. So ist "Long Forgotten" für mich der vielleicht schönste Song über eine verlorene Liebe, der je geschrieben worden ist. Die Kargheit, die fast kammermusikalische Instrumentierung korrespondiert perfekt mit dem in diesem Fall recht direkten, resignativen Text.
Einzelsongbesprechung
1. I Am The Morning: Ein traumhaft schönes, postrockiges Intro nimmt einen von Anfang an auf der Reise gefangen. 2. Catalyst: Oha, rocken können sie ja auch. Erst schräg, dann eingängig und mit Ohrwurmqualitäten - trotz der 13 Taktwechsel. 3. One Day All This Could Be Yours: Viele bezeichnen diesen Song als den "schwierigsten" der Platte. Das ist seltsam, denn durch ihn hat sich mir dieses Album erst eröffnet. Eine mir vorher so nicht bekannte, unheimliche Atmosphäre und eine tolle, heavy Klimax machen den Song obwohl er nur 4 Minuten lang ist zu einem echten Highlight. 4. Massive Bereavement: Der erste Longtrack der Scheibe. Anfangs spärlich instrumentiert, im Aufbau postrockig, aber jazzige Relaxtheit, bis schließlich nach mehr als 4 Minuten die Gitarren von der Leine gelassen werden. Bei der letzten Tour war das (leider!) der einzige Song von Effloresce der gespielt wurde. Ohne Zweifel der beste Song des Sets, wie mir auch meine Stehnachbarn versicherten. Ein wahrhaft orgiastisches Finale, live noch besser als auf Platte. 5. Rinsed: Ein leicht psychedelisches, relaxtes Instrumental, getragen vom warmen Bass Jon Ellis' (der die Band mittlerweile verlassen hat), Soundscapes von Gitarren und vom PC, dezentes, zurückhaltendes Drumming. Ein schöner, introvertierter Track. 6. You Wish, 7. Remember Where You Are, 8. Amputee: Das sind wieder drei Rocksongs im Stile von Catalyst. Wie zuvor allerdings schon erwähnt, geht die Eingängigkeit nicht auf Kosten der Abwechslung, im Gegenteil. Hier wird gerockt, ohne je zu langweilen. Jeder der Songs besticht durch seinen eigenen Charme, die Grundatmosphäre bleibt allerdings gleich. Amputee, ein Klassiker im Liveprogramm der Band und einer ihrer ersten Songs, zeichnet sich durch seinen energiegeladenen Refrain und einen wunderschön verträumten Mittelteil aus. 9. Unravel: Ein weiteres Instrumental, diesmal auf Klavierbasis. Ähnlich wie Rinsed eher spärlich instrumentiert und relaxt. Es leitet über zu den 3 Longtracks am Ende des Albums, wohl das eigentliche Highlight (wenn man hier überhaupt von Highlights sprechen kann, jeder Song ist eine Perle). 10. Women Who Love Men Who Love Drugs: Der erste der Longtracks, die allesamt recht postrockig ausfallen, der hier aber wohl am stärksten. Wunderschöne Klangmalereien, spärlicher Gesang, eine wahnsinnige Steigerung, Laut-Leise-Unterschiede bis zum Umfallen, überschäumende Emotionen, detaillverliebte Produktion. Was sich hier alles abspielt, klasse! 11. Saturday Morning Breakfast Show: Der Anfang des Songs klingt nach üblem Kater. Das ist aber keineswegs negativ gemeint. Jazzig, nüchtern, mit einem wachenden und einem schlafenden Auge, Kopfweh. Danach geht der Song allerdings wieder in postrockige Gefilde über und steigert sich ähnlich wie Women Who Love Men Who Love Drugs zu einem heftig rockenden Finale. 12. Long Forgotten: Bereits erwähnt - hier gibt es kaum oder nur wenig verzerrte Gitarren, dafür Streicher und eine unglaublich ins Ohr gehende Basslinie. Resignierender Herzschmerz, der zu Musik gemacht wurde. Der Track rührt zu Tränen und ist ein gewaltiger Abschluss für ein gewaltiges Album. Hier sei auch die Länge des Albums positiv vermerkt. Über 75 Minuten darf genossen werden, und da ist keine Minute zu viel, kein Ton überflüssig.
Alle Oceansize-Alben sind gut, aber Effloresce ist für mich das emotionalste und atmosphärischste von allen. Der Grund, warum es so gut ist, mag wohl auch im Perfektionismus an diesem Album liegen: Oceansize gründeten sich 1998, veröffentlicht wurde Effloresce 2003. Diese Songs hatten jahrelang Zeit, zu reifen, und das hört man ihnen auch an. Dieses Thema spricht Sänger Mike Vennart auch in einem Interview an, in dem er sagt, dass sie sich recht schwer taten mit dem Zweitling Everyone Into Position (2005 veröffentlicht), weil sie nur so kurz Zeit hatten, um neues Material zu schreiben. Und obwohl das Album gut ist, ich finde, das hört man ihm leider durchaus an. Auch wenn ich hier so von dem Album schwärme, darf man allerdings nicht erwarten, sofort Zugang zu finden. Ich fand es zu Beginn auch "belanglos", "nett anzuhören". Die Songs benötigen (zumindest war's bei mir so) wirklich mehrere, bewusste Durchläufe, um hängen zu bleiben. Dann bleiben sie allerdings für immer.
Fazit: Für mich ein Meisterwerk des modernen Prog und Referenz für ein ganzes Genre. Da können sich Porcupine Tree eine Scheibe von abschneiden. Um es auf babyblau zu sagen: 15/15.
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